Gestern hielt ein Mann am Infostand mir einen Vortrag darüber, dass Menschen nur zu uns flüchten, um Sozialleistungen zu kassieren und sie an ihre Familien zu schicken. Man solle lieber Entwicklungshilfe schicken, als die Leute hier aufzunehmen. Ich rechnete ihm vor, dass man von ALG II ganz sicher nicht Geld abzweigen könne und von Asylbewerberleistungen schon gar nicht. Ich erzählte ihm darüber hinaus von einem Bekannten, der hier ein Niedriglohnjob habe und davon tatsächlich jeden Monat 100,- Euro an seine Familie in Ostafrika schicken kann und damit die Schulbildung aller Kinder der Familie sichert, und fragte ihn, ob er wisse, dass solche Zahlungen an Familienangehörige den wichtigsten Entwicklungshilfebetrag ausmachen. Er lenkte davon ab, in dem er vor Islamisierung warnte, mir Unwissenheit vorwarf und sagte, wir könnten schließlich nicht alle Probleme der Welt lösen.
Abends sprach ich mit einem Bekannten, dessen Verwandte in Afghanistan leben. Seine sanften, traurigen Worte brachten mir die Situation viel näher als die erschütternden Bilder im Fernsehen. Er ist einer von vielen, die das Land aus gutem Grund schon vor Jahren verlassen mussten. Denn Afghanistan war und ist nicht sicher. Meine Gedanken an seine Sorge um seine Familie und die Ohnmacht angesichts der Situation haben mich heute Nacht um den Schlaf gebracht. Stell dir vor, du musst deine Familie und Freunde und alles, was du besitzt, verlassen, um dein Leben zu retten. Du weißt, dass du deine Eltern vielleicht zum letzten Mal in diesem Leben in die Arme schließt. Aber du hoffst, dass du sie irgendwann nachholen oder sich die Lage so stabilisiert, dass du wieder zurückkehren kannst. Und dann eskaliert die Situation und alle Hoffnung erlischt.
Lieber Mann vom Infostand, du hast ja so recht. Ich bin unwissend, Ich beschäftige mich zwar seit Jahren mit Fluchtgründen und spreche mit Menschen über Fluchterfahrungen. Und trotzdem habe ich keine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, Islamisierung oder ähnlicher Gefahr ausgesetzt zu sein und solche schwierigen Entscheidungen treffen zu müssen. Ich weiß nur, dass ich noch keine Person getroffen habe, die zum Spaß geflüchtet ist. Auch kenne ich keine Menschen, die es sich hier mit Sozialleistungen bequem machen. Die meisten Menschen mit Fluchterfahren, die ich kenne, hangeln sich von einem befristeten Niedriglohnjob zum nächsten. Einige kämpfen sich tapfer über die hohen Hürden des deutschen Ausbildungssystems. Und andere sind einfach nicht in der Lage, einen geregelten Alltag zu meistern.
Und ja, wir können nicht alle Probleme der Welt lösen. Vor allen Dingen nicht mit Waffen. Aber wenn wir uns schon an einem Militäreinsatz beteiligen, dann dürfen wir uns nicht einfach zurückziehen, unsere Waffen dalassen und uns dann wundern, wenn die Situation eskaliert. Und nun gilt es Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört eine unbürokratische Aufnahme gefährdeter Personen aus Afghanistan und eine Anpassung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes. Denn es gibt keine sicheren Regionen in Afghanistan. Wir brauchen einen umfassenden und grundsätzlichen Abschiebestopp. Jetzt!