Auf den ersten Blick fallen sie nicht auf unter den Reisenden, doch ihre müden Augen, die schweren Koffer und die Tüten mit Obst und Süßigkeiten, die ihnen unterwegs zugesteckt worden sind, verraten es: In meinem Abteil sitzen mehrere Familien, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Eine Frau spricht gut Deutsch und fragt eine Mitreisende zu den Reisewegen. Die Fahrt geht nach Dänemark zu Verwandten.
Ich würde in ihrer Situation auch zu Verwandten gehen. Natürlich. Und hätte ich mich nicht selbst retten können, hätte ich zumindest mein Kind in Sicherheit geschickt. So passiert es auch jetzt. Ich habe gerade einen Bericht über einen elfjährigen ukrainischen Jungen gelesen, der nur mit einer Plastiktüte in der Hand ganz allein zu Verwandten in die Slowakei geflüchtet ist, weil seine Eltern die Ukraine nicht verlassen können.
Die Geschichte hat bei mir Erinnerungen an 2015 geweckt. Ich habe mich damals länger mit einem dreizehnjährigen syrischen Jungen unterhalten, der zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Cousin seit Wochen unterwegs gewesen ist. Furchtlos und optimistisch hat er von der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer, dem lange Fußwege durch Griechenland erzählt und davon, dass er seine Mutter jeden Abend anrufen muss, weil sie so große Angst um ihn hat und sonst weint.
Nach jahrelangem Aufenthalt unter entsetzlichen Bedingungen in einem Zeltlager nahe der syrischen Grenze, haben die Eltern sich dafür entschieden, die Kinder zu ihrer Tante nach Dänemark zu schicken. Während ich mit dem Jungen gesprochen habe, hat seine Tante wenige Kilometer entfernt in Pattburg gewartet. Wir haben telefoniert, hin und her überlegt, wie wir die Familie zusammenbringen. Der Junge hat nicht verstanden, warum es so kurz vorm Ziel Probleme gibt.
Anders als in der jetzigen Situation, ist es den Kindern damals nicht erlaubt gewesen, zu ihrer Tante zu gehen, geschweige denn von ihr abgeholt oder uns gebracht zu werden. Dafür wären wir alle der Schleuserei bezichtigt worden. Also haben wir die Kinder allein in den Zug gesetzt und sie gebeten, sich in Dänemark an die Polizei zu wenden.
Viele Menschen sind 2015 nicht bei ihren Verwandten gelandet. Alle alleinreisende Minderjährigen sind zunächst in Heimen untergebracht, Familien und Erwachsene auf Aufnahmeeinrichtungen verteilt worden. Ich bin froh, dass es jetzt anders ist und bestehende Netzwerke und Bezüge genutzt werden können.
Flucht ist so alt wie die Menschheitsgeschichte und so aktuell wie nie. Wir müssen Strukturen schaffen, die Menschen das Ankommen und uns das Zusammenleben erleichtern. Denn wir haben nur diese eine Welt und müssen die Krisen gemeinsam meistern.
»Lige meget hvem du er, lige meget hvor du er. Så velkommen her.«